Sowas hatte ich noch nie! Ein sehr intensives Interview mit einem Künstler, dessen Namen man nicht kennt! Nur den “tagg” (so nennt man die frei erfundene Signatur in der Graffiti-Kunst) und die Bilder des Künstlers ohne erkennbares Gesicht. Für HIPSTER HOME war ich dieses Mal in Bushwick, Brooklyn NYC unterwegs und habe den Graffiti-Künstler „Leaf“ getroffen. Name, Alter, Ausbildung: Unbekannt!

Der Stadtteil Bushwick war für mich bereits beim ersten Durchlaufen das Mekka der Straßenkunst. Eine einzige gigantische Open Air-Galerie! Ein Stadtteil, der erst kürzlich von der Gentrifizierung “entdeckt“ wurde und Potenzial hat, das nächste Williamsburg zu werden. Was den Stadtteil besonders macht, ist der Charme eines heruntergekommenen Industriegebietes mit vielen Wänden. Und keine davon ist grau, weiß oder aus bröckelndem Backstein. Jede Wand explodiert schier vor Farbe!

Künstler überschreiten Grenzen

Graffiti startete in den 1960ern in New York City, genauer gesagt in der Bronx – the Graff. Die Künstler-Community in NYC ist seitdem gigantisch angewachsen, über alle fünf Stadtteile hinweg. Bushwick in Brooklyn ist daher nur ein kleiner Stern in der Graffiti-Galaxie! Grund genug für die Künstler in Bushwick hervorzustechen und Grenzen zu überschreiten! Illegal, geduldet, gewünscht oder gehasst!

Leaf, wie hat das bei dir angefangen, wie wurde aus dir ein Graffiti Künstler?

Mein Vater ist ein Kreativer. Ich durfte als Kind miterleben, wie mein Vater seine eigene Werkstatt aus dem Nichts aufbaute.

Dort hat er viel schweres Holz zu Kerzenständern, Bänken, Regalen und anderen Gegenständen verarbeitet. Als Kind habe ich viel Zeit damit verbracht, ihm zuzusehen und selbst herumzubasteln. Es lag immer irgendein Spray herum. Rückblickend mag es nicht immer Sprühfarbe gewesen sein (Leaf lacht), vielleicht Klarlack oder Ähnliches, aber es war definitiv immer etwas Sprühfarbe dabei. Also habe ich begonnen ein paar Skateboards zu besprühen.

Als ich 16 war, bin ich mit meinem Vater von NYC nach South Carolina gefahren. Irgendwann fing er an über etwas furchtbar zu schimpfen, das er am Straßenrand gesehen hatte. Er hielt an und ich sah aus dem Fenster auf ein großes Feld und hörte meinen Vater sagen: “Schau dir diese Farben an, den Ausdruck, wie viel Zeit jemand damit verbracht haben muss…”. Auf dem Feld stand ein Güterzug, der über und über voll mit Graffiti war. Dieses besondere Farbschema und die anschließende Diskussion über Graffiti mit meinem Vater haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Und seither war mir klar was ich machen wollte. Graffitis!

„Es gibt nur mich und meine Farben“

 

Warum ist Graffiti deine Kunst? Was ist der Thrill und was fasziniert dich?

Ich habe immer schon die dunkle Seite der Stadt romantisiert. Ich war immer schon ein Außenseiter. Aufgewachsen mit Skateboard statt Football, Hockey oder sonstigem „Spießerzeug“. Mit meinem Board habe ich immer Spots zum Skaten gesucht, um Tricks auszuprobieren. Skateboarden wird oft mit Graffiti in Verbindung gebracht. Beim Skaten gibt es nur dich und dein Board und hunderte von Tricks, die man lernen kann und perfektioniert. Gleiches gilt für Graffiti. Es gibt hier nur mich und meine Farben. Man entwickelt seinen eigenen Stil, feilt an verschiedenen Techniken und genießt die unendliche Freiheit zu malen wann und wo man will. So klein oder gigantisch wie man es selbst für richtig hält. Es gibt keine Grenzen.

Wie wählst du den Ort für dein nächstes Kunstwerk aus?

Ich sehe Orte in meinem Alltag, an denen es meiner Meinung nach Kunst geben sollte. Und das sind die Orte, an denen ich spraye. Stell dir eine Welt voller unvollständiger Rätsel vor, meine Graffitis passen genau in die Lücke.

Wurdest du jemals erwischt?

Ja, ich wurde zweimal festgenommen. Was allerdings viel mehr zählt, ist die Häufigkeit in der ich nicht verhaftet wurde. Bei all den unzähligen Nächten, in denen ich an fremde Wände gesprayt habe, ist zweimal erwischt zu werden ein ziemlich guter Schnitt. Aber erwischt zu werden ist natürlich nie gut. Ich versuche, die Polizei immer um jeden Preis zu meiden. Die Bestrafung ist meistens gemeinnützige Arbeit oder Sozialstunden.

Ist es nicht manchmal unbefriedigend, dass die Betrachter nicht wissen, dass die Kunst von dir stammt?

Die Betrachter, die nicht wissen, dass es meine Arbeit ist, sind mir egal, solange sie es sehen und es sie zum Nachdenken bringt – dann bin ich zufrieden. Diejenigen, die mich erkennen, sind mir ähnlich. Viele in der Community erkennen meine Arbeit als ein eigenes Thema, eine eigene Stimmung und “verstehen” somit meine Kunst.

Graffiti ist Selbstdarstellung

 

Woraus schöpfst du die Wertschätzung für das, was du tust? Was hat es mit dem „tagg“ auf sich?

Wie viele New Yorker romantisiere ich die „U-Bahn-Ära“ der Graffiti. Eine Zeit, in der Züge mit Namen von innen und außen überzogen waren. Zu dieser Zeit war es ein „Yo! Ich existiere!“-Statement. Jeder schreibt seinen Namen und hinterlässt buchstäblich seine Spuren in der Welt durch frei sichtbare Kunst und Selbstdarstellung. Die meisten Graffiti-Künstler beginnen mit ihren stilisierten Namen, dem „tagg“, einer Art Signatur. Jeder der zum ersten Mal etwas sprüht braucht eine Basis, einen Baustein.

Ist es frustrierend, wenn du feststellst, dass eines deiner Graffiti übermalt wurde?

Es gibt immer diesen anfänglichen Ärger oder ein gewisses Frustrations-Gefühl. Aber am Ende des Tages habe ich gelernt, dass meine Kunst nun mal der Öffentlichkeit ausgeliefert ist. Das heißt, einige Leute werden es mögen und Fotos davon machen, andere werden es gar nicht wahrnehmen. Andere wiederum versuchen, es aus irgendeiner Motivation heraus zu ruinieren. Man weiß es nie. Also macht man sein Graffiti und stellt sicher, dass man ein Foto für seine eigenen Unterlagen hat und hofft das Beste.

Konkurrenz um die Plätze

 Wenn jemand dein Graffiti übersprayt kann man jederzeit seinen Platz zurückfordern und dasselbe tun, oder loslassen. Das ist der Kampf, den man führen kann oder eben nicht. Ich habe definitiv ein paar meiner Arbeiten von anderen “korrigiert“ bekommen die versucht haben, mir meine Plätze abzuwerben.

Du gibst auch Graffiti-Kurse. Ich habe es selbst ausprobiert und ich muss sagen, es ist nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Erkennst du schnell ein Naturtalent in deinen Kursen?

Ich bin mir sicher, dass ich sofort ein Talent entdecken würde. Besonders da die Teilnehmer meist keine oder sehr geringe Vorkenntnisse haben. Aber bis jetzt hat mich noch niemand mit seinem Können wirklich umgehauen (lacht).

 

Du hast in Miami eine riesige Wand besprüht. Wie hoch war dein persönliches Investment (Spray, Zeit…), um ein so großes Kunstwerk wie dieses fertigzustellen?

Ha, das ist eine gute Frage und in Zahlen eigentlich nicht zu beantworten. Ich habe diese Mauer tatsächlich sehr unerwartet bekommen. Ursprünglich war ich mit ein paar Freuden mit günstigen Flügen nach Miami gereist, um an der ArtBasel in Wynwood teilzunehmen. Eines Morgens kam einer meiner Kumpels, mit dem ich das AirBnB teilte ganz aufgeregt in mein Zimmer und sagte: „Yo Leaf, steh auf, wir haben eine Wand!“ Ich sprang auf und es ging sofort zu dem Spot. Nachdem wir uns die Farbe geholt hatten, verbrachten wir den ganzen Tag und den nächsten Morgen damit, das Gebäude fertigzustellen. Ich habe die Stelle mit der Treppe freiwillig genommen, um eine zusätzliche Herausforderung zu haben.

Mehr von und über Leaf erfahrt ihr auf seinem Instagram-Channel @leaf_8k 

Auch interessant:

DIE BLAUE STUNDE

„MALEN IST PURE FREUDE“

BROOKLYN – SO WOHNT DER WAHRE HIPSTER!

 

Pin It on Pinterest

Share This